Kontrollverlust
Anmerkungen zur Arbeit von Birgit Knoechl

 

„Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet.“ (Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Merve-Verlag, Berlin, 1997, S. 36)

 

Hier eine knollenartige Pfropfung, dort zu einem dichten Netz verwoben, ausgefranst und sich dem Wind beugend, gleichermaßen in die Luft wie in die Erde wurzelnd, sich in alle Richtungen hin ausdehnend, ohne Umfriedung – haltlos. Pflanzenformen und die Lebendigkeit des Materials Papier paaren sich in Birgit Knoechls Kunstwerken zu subtilen, in den Raum greifenden Formen. Neophyten, Pflanzentypen, die der Künstlerin unter anderem als Vorlage für ihre Installationen dienen, sind Lebewesen, die sich auf Wanderschaft befinden: sie kommen in eine neue Gegend, siedeln sich in fremden Territorien an und vertreiben heimische Gattungen. Un-Kraut werden sie auch genannt. Birgit Knoechl arbeitet mit parasitären Pflanzen und den unberechenbaren Eigenschaften dieser invasiven Organismen. Sie extrahiert Blatt- und Blütenformen, manipuliert und abstrahiert die Kreaturen und setzt schließlich die so gewonnenen Samples zu neuen Pflanzenformen zusammen.

Hier ein schattenspendender Baldachin, dort spitzblütig, ungleichblättrig und lichtdurchlässig, dem festen Tritt der Spaziergängerin untergeordnet, weich und samtig mit umso klarer konturierten Architekturen, mehrteilige Hybride – seriell. Wenn sie die Tuschezeichnungen aus meterlangen Papierbahnen ausschneidet, definiert Birgit Knoechl die zweidimensionale Linie der Zeichnung neu und definiert sie abermals, sobald die Arbeiten im Raum platziert werden, wo sie unweigerlich die zuvor am Papier begonnenen Wucherungen fortführen. Trotz der matten Grundlage des absorbierenden Trägermaterials wirken die Installationen metallisch, die Wucherungen aus Pflanzenhybriden changieren in allen nur erdenklichen Farben. Nicht nur die zarten Brechungen des Tageslichts auf der schwarzen Tusche machen die Kunstwerke zu jederzeit wandlungs- und wachstumsfähigen Skulpturen. Papier ist lebendig, es bewegt sich, je nach Schwankung der klimatischen Bedingungen reagiert es auf den Raum. Im Laufe der Zeit verändern sich die Werke, sie ziehen sich zusammen, sie dehnen sich wieder aus – pulsierend wie das Leben. Die organischen Collagen werfen Schatten auf die sie umgebenden Wände und erzeugen zusätzlichen Raum, der Raum des Dazwischen.

Hier trichterförmig, dort in hauchdünnen Schichten arrangiert, das Umfeld verneinend, entgegen jeglicher Nomenklatur, mit sprossenartigen Waffen bestückt, resistent, kultiviert und wieder verwildert – widerständig. Auf die Frage, warum die Künstlerin versucht, den zweidimensionalen Raum zu verlassen, antwortet sie: „Es geht um Okkupation.“ Raum besetzen, sich Raum aneignen und immer wieder neue Perspektiven darauf werfen – dies ist gleichermaßen Praxis und Thema in Birgit Knoechls Installationen, mit denen sie die Idee eines großen Hybridarchivs verfolgt. Sie verbindet wissenschaftliche und politische mit ästhetischen Aspekten, ohne dabei die thematisierten Sachverhalte explizit zu machen – das hemmt, diese Kontrolle braucht sie nicht. Die zahlreichen Gedankenwelten, die sich BetrachterInnen vor Knoechls Installationen eröffnen, sind alles andere als einengend: vielschichtig – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

 

Text by Franz Thalmair

published in “CUT_SCHERENSCHNITTE 20 aktuelle Positionen”
Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung
im Museum Moderne Kunst Kärnten
editor: Christine Wetzlinger-Grundig
MMKK 2011