ARCHIVE I

Module

 

Versatzstücke, die einer strengen Logik aber nach alle Richtungen hin offenen Systematik folgen, facettenreich; Bausteine, die sich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, um in dessen Endgültigkeit kontinuierlich in Bewegung zu bleiben.

Natürliche Konstruktionen und künstliche Figuren, im gleichen Maße gegeneinander wie miteinander.

              Hier eine knollenartige Pfropfung, dort zu einem dichten Netz verwoben, sich wieder verflüchtigend, dem Wind beugend, gleichermaßen in die Luft wie in die Erde wurzelnd, sich in alle Richtungen hin ausdehnend, ohne Begrenzung

         Haltlos.

                Hier trichterförmig, dort in hauchdünnen Schichten, das Umfeld verneinend und entgegen jeglicher Nomenklatur, mit sprossenartigen Waffen bestückt, resistent, kultiviert und wieder verwildert – eine durch und durch widerständige Praxis.

 

 

ARCHIVES I, II, III, IV

Living Archives

 

Organisch ist nicht nur die Formensprache, die Birgit Knoechl spricht. Organisch, ja geradezu lebendig sind auch die Archive, die sie aus ihrer Arbeit schöpft, die Archive, die sie durch ihre Arbeit hervorbringt, die sie mit ihrer Arbeit erzeugt – jene Archive, die in di­esem Buch vorliegen und zu einem neuem Archiv zusammengefasst sind.

Aspects of Growth.

Es handelt sich dabei um Konstellationen des Wissens, eines visuellen Wissens, um niemals alternde Speicher eines kollektiven Bildbewusstseins, um Zusammenfassungen und Konzentrationen, die jedoch stets temporär bleiben, kurzweilig, veränderlich, anpassungsfähig und widersprüchlich.

Der Wandel, der Umbruch und der Neubeginn sind Birgit Knoechl’s Archiven genauso eingeschrieben wie der Rückgriff auf Bekanntes, das Bewahren, das Konservieren. Auf Zeit angelegte Manifestationsformen kommen und gehen, kommen und gehen wieder.

Rhizomatische Strukturen.

               Raum besetzen.

Die Künstlerin sammelt Materialien, Formen und Inhalte, sie mischt sie, sie bringt sie durcheinander, sie ordnet sie nach ihren eigenen Standpunkten – nach dem Rhythmus, den das Material, die Form, der Inhalt von ihr verlangt. Birgit Knoechl’s Archive sind Sammlungen, Ansammlungen. Es sind verdichtete Anhäufungen, durch die die Künstlerin immer weitere, immer neue Narrative produziert, indem sie auf bestehende Erzählungen zurückgreift.

Birgit Knoechl erzählt von der Welt.

Die Künstlerin berichtet von den Versatzstücken, die die Welt hervorbringen, und von den Versatzstücken, die gleichermaßen von der Welt hervorgebracht werden. Module, systematisch einsetzbar, um dem System Paroli zu bieten – eine widerständige Praxis. Die Künstlerin erzählt von Mischformen, die Vertrautes zu neuen Kategorien verschmelzen, Hybride, die für das Moment der Verbindung stehen und zur Gänze in der Fusion aufgehen.

Sie verhandelt Grundformen und ihre facettenreichen Aggregatzustände, ohne sich auf Formen und Zustände zu kaprizieren – denn die Reflexion darüber ist immer erst im Werden begriffen. Line_Shape. Birgit Knoechl macht Schnittstellen sichtbar, sie konstruiert Interfaces, organische, gewachsene, körperliche Membrane, die als Phänomen des Übergangs zur Lebendigkeit ihrer Arbeit beitragen – zu ihren lebendigen Archiven.

 

 

ARCHIVE II

Hybrid

 

Mischformen, die aus Bekanntem Neues generieren; ein Zusammenwurf vertrauter Formen, deren einzelne Bilder durch ihre Differenz zu vibrieren beginnen, scheinbar willkürlich und vermeintlich gewollt; wärmende Fusionen und kühlende Kombinationen; kluge Bündnisse, zweckdienliche Gemeinschaften, aus einem Impuls heraus entstandene Liaisonen; Gebündeltes, Gekreuztes, Verschmolzenes.

Mehr als zwei Seelen in einer Brust.

              Hier ein Schatten spendender Baldachin, dort spitzblütig, ungleichblättrig und lichtdurchlässig, dem festen Tritt der Spaziergängerin stets untergeordnet, weich und samtig mit umso klarer konturierter Architektur, mehrteilig, seriell. Hier im Moment des Entstehens, zart im Wachsen begriffen, dort in der vollen Blüte des Lebens, bereitwillig und ausladend – im Moment der Verbindung angekommen.

 

 

ARCHIVE III

Line_Shape

 

Grundformen und Aggregatzustände: Grundformen, die sich wiederholen, Grundformen, die variieren; Aggregatzustände, die sich wiederholen, Aggregatzustände, die variieren; Körper mit Ecken, Kanten und Flächen; Gebilde aus Linien, die sich aus ihrer Begrenzung zu lösen versuchen und in den Raum drängen.

Kristallisationskeime.

Bewegungsenergie, Anziehungskraft und Abstoßung; biomorphe Architekturen und architektonische Biologie; Schicht für Schicht, verdichtet und verfremdet, eine Form ergibt die andere, ein Zustand jagt den nächsten.

Wachstum.

Hier radialstrahlig, stängelig und nadelig, dort trauben- oder knospenförmig, knollig, wulstig, buschig. Hier zylindrisch, würfelig, prismatisch, dort schuppig, blättrig, der Form des Glimmer entsprechend – Handlungen, im Werden begriffen.

 

 

ARCHIVE IV

Interface

 

Schnittstellen, die filigraner nicht sein könnten; Membrane, durchlässig, undurchlässig, semipermeabel und Grenzflächen in Schwingung versetzend; Zwischenstücke, die die eine von der anderen Seite trennen wie sie die beiden Seiten miteinander in Beziehung setzen; obsolete Benutzeroberflächen, die aus ihrem Kontext gerissen wurden, Benutzeroberflächen, die ihrer Schaltzentrale abhanden gekommen sind, die sich nicht verabschiedet haben, die jetzt ihr eigenes Leben leben.

Brücken, Stege und Verbindungslinien.

              Hier vor wenigen Minuten noch Mitten in der Funktion, dort die Wurzeln ausgefahren, jedoch ohne sich jemals wieder festsetzen zu wollen. Hier eine Sollbruchstelle, dort auf Tuchfühlung mit immer neuen Möglichkeiten, offene Wunden und Nähte – Phänomene des dauerhaften Übergangs.

 

 

Text by Franz Thalmair

published in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015