ELISABETH CZIHAK / BIRGIT KNOECHL – JUMP THE LINE
In der installativen Ausstellung »Jump the Line«, die Elisabeth Czihak und Birgit Knoechl speziell für die Kunsthalle Nexus entworfen haben, beschäftigen sich die beiden Künstlerinnen auf sehr unterschiedliche, aber korrespondierende Weise mit zeichnerischen Prozessen in Verbindung mit Raumfragen. Beiden geht es um die Besetzung des Raumes durch die Linie, die bereits seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts von ihrer traditionellen Zweidimensionalität „befreit“ wurde und seitdem in alle Richtungen – Skulptur, Raum und Wand – erweitert wird. Die Liniengespinste zwischen Konzept und Zufall, Konstrukt und Poesie führen – im Fall von Czihak – über mehrere Wände bzw. wuchern – im Fall von Knoechl – als dreidimensionale Papierschnitte, sogenannte Cut outs von der Wand in den Raum. In ihren Arbeiten untersuchen die Künstlerinnen die formalen Möglichkeiten der Linie an sich, deren Eigenschaften des Flüchtigen und Irregulären im Verhältnis zur festgefügten Architektur des Raums. „Jump the Line“ – die Linie ist in Bewegung: Nicht nur die Arbeiten der Ausstellung sind auf unterschiedlichste Weise von Bewegung dominiert, auch ihre Entstehung basiert auf einem besonders intensiven körperlichen, ja performativen Einsatz der Künstlerinnen. Ruhender, aber dominanter Pol in der Mitte, um den sich alles bewegt, ist die Stativ-Gruppe mit Beleuchtungsspots, Resultat einer pointierten Lichtregie. In einem mehrtägigen, den Raum sowie die Möglichkeiten der Linie erkundenden Prozess zwischen Emotion und Ordnung hat Elisabeth Czihak mit Bleistift eine Wandzeichnung ausgeführt, die sich weitläufig über die Wände zwischen Galerie und Hauptraum der Kunsthalle zieht. In ein „Gerüst“ aus wellenförmigen Linien hat sie mehr oder weniger zu Haufen verdichtete Linienknäuel eingearbeitet, die sich über die Wände bewegen. Czihak nennt sie „creatures“, Kreaturen, Wesen, durchaus auch im Sinn von Fabelwesen, denn sie haben etwas Unbestimm-tes, Mysteriöses an sich. Es lassen sich Klettergewächse assoziieren, oder doch eher davon-fliegende Wollmäuse, aber vielleicht auch Ungeziefer, das sich in Gruppen in eine Ecke flüchtet und auch schon fast bedrohlich aus Ritzen hervorkriecht, um ebenso wieder darin zu verschwin-den. – Anders als bei der Zeichnung auf Papier liegt bei der Wandzeichnung das absolute Ende grundsätzlich in weiter Ferne; die Begrenzung liegt in der Entscheidung der Künstlerin. Czihak hat als Anfangs- und gleichermaßen Endpunkt ihrer Wandzeichnung eine großformatige Foto-grafie im Hauptraum bestimmt, die einen unter rätselhaften Umständen radikal verbogenen Heizkörper zeigt, einen Heizkörper, dessen Bewegung durch die Fotografie eingefroren ist. Das Foto steht im Kontext von Czihaks Interesse an verlassenen Gebäuden und Wohnungen. Ihr geht es hier vor allem um das Aufspüren von Vergangenem, Flüchtigem, Transformatorischem; sie fühlt sich mit ihren Fotografien und der damit verbundenen intensiven Recherche in die Räume und Situationen ein, eignet sie sich an – ebenso wie sie sich den Ausstellungsraum mit der Zeichnung erschlossen hat. Ihre Fotografien sind unveränderte Abbildungen der jeweiligen Realität von Örtlichkeiten und Situationen. Der Bruch des rein Dokumentarischen liegt in der Tatsache, dass sie nie den ganzen Raum, sondern immer nur Ausschnitte zeigt und auch darauf verzichtet, Ort, Zeit und Umstände näher zu bezeichnen. Die Räume bekommen dadurch etwas Poetisches, wodurch ein Spekulieren und Rätselraten über die vergangenen Geschehnisse und ehemaligen Bewohner bzw. Nutzer der Räume in Gang gesetzt wird. Durch seine absurde, unerklärliche Verformung und den dadurch bedingten Verlust seiner Funktionalität steht der Heizkörper wie eine Skulptur da und kann im Kontext Kunst reflektiert werden. Ebenso ambiva-lent gibt sich die Fototapete, die man in ihrer Monumentalität als eine Art installatives Bild sehen kann. Gezeigt wird ein menschenleerer Raumteil mit einer früheren Installation von Czihak: rechts die Ansicht und links das spiegelverkehrte Motiv. Auch dieser Raum gibt keinen deut-lichen Verweis auf die zugrunde liegenden Umstände. Optisch wird der Raum der Kunsthalle erweitert, denn der Tapetenraum tritt so plastisch hervor, das wir glauben, diesen betreten zu können und vielleicht sogar nach hinten weitergehen können. Czihak hat hier zahlreiche Raumebenen geschaffen und durch deren Verschränkung Bewegung in die eingefrorene Situation gebracht. Neue Wahrnehmungsmöglichkeiten räumlicher Strukturen eröffnen sich. Neben dem Raum des Tapetenmotivs gibt es noch den auf dem ‚Foto im Foto’ dargestellten Raum, den durch die Spiegelung entstandenen neuen Raum sowie den künstlerisch bespielten Ausstell-ungsraum – ein irritierendes Spiel, das durch die Spiegelverkehrtheit und die beim diagonalen Vorbeigehen erfahrbare optische Verschiebung des Tapetenraums noch potenziert wird.
Auch Birgit Knoechl geht es formal um einen erweiterten Begriff der Zeichnung, um einen Transfer von der Zwei- in die Dreidimensionalität, um die Materialisierung und Bewegung der Linie und dabei gleichzeitig um eine Auseinandersetzung mit Raum, den sie sich aneignet, mit ihren Arbeiten okkupiert und ihn damit auch neu definiert. An den beiden hohen aneinander stoßenden Wänden der Kunsthalle hat sie nach einer subjektiven Dramaturgie einen Bewegungsfluß von Cut outs, bestehend aus mehreren Modulen – also von ihr vorgefertigten „Bausteinen“ – installiert. Diese wurden manuell auf der Basis von Tuschezeichnungen aus meterlangen stärkeren Papierbahnen geschnitten. „Aspects of growth_ white noise“ heißt diese Installation mit bis auf wenige Übermalungen weiß gehaltenen Objekten. Es ist ein stilles weißes Rauschen, das sich dafür umso mehr in einer barocken Bewegtheit artikuliert. Bewusst gesetzt dazu ist der gegenüber in der Galerie angebrachte kleine, weniger ausbuchtende, schwarze Cut out. – Nachdem die Formen aus dem Papier geschnitten wurden, findet in einem längeren Arbeits-prozess vor Ort eine weitere Transformation der Linie statt: das Drapieren und Schichten zu dreidimensionalen Objekten. Dabei geht es Knoechl darum, mehrere Ebenen zu schaffen. For-men beginnen, bewegen sich vorwärts, werden abgebrochen und an anderer Stelle wieder auf-gegriffen. Aus Knäueln ufern Ableger aus – wie bei Czihak gleichsam feinsinnig und bedrohlich, zurückhaltend und explosiv. Man kann die sinnlich-poetische Wirkung genießen und spüren, wie sehr sich Knoechl auch für das Material interessiert, für das Papier als lebendigen und vielsei-tigen Werkstoff. Und es geht ihr um die Visualisierung von Wachstumsprozessen (aspects of growth) in der Natur, in die sie gleichsam ordnend wie auch kreativ-experimentell eingreift. Ihre Formen holt sie aus einem großen, selbst angelegten Archiv von Garten- und Wildpflanzen und auch in besonderem Maße von Neophyten. Dies sind Pflanzenarten, die sich ohne oder mit menschlicher Einflussnahme in einem Gebiet etabliert haben, indem sie zuvor nicht heimisch waren. Sie sind demnach von hoher Anpassungsfähigkeit, Resistenz und häufig auch von sol-cher Dominanz, dass sie heimische Pflanzen bedrohen und verdrängen können. Knoechl fas-ziniert die Dynamik und Unberechenbarkeit dieser wilden Kräuter als Basis ihrer wuchernden Gebilde. Ihre Formfindung geschieht durch die Herausisolierung von Blatt- und Blütenformen aus dem Archiv, die sie wiederum bearbeitet und abstrahiert und zu neuen Pflanzengebilden zusammensetzt. Es entsteht ein Dschungel aus auswuchernd-wilden und dann doch wieder ge-ordneten Strukturen, aus klar konturierten und weichen Formen, aus verdichteten und offeneren Stellen, Kreaturen wie bei Czihak. – Durch die prägnanten Schatten, die durch die starken Spots gebildet werden, wird zusätzlicher Raum geschaffen. Neue Perspektiven entstehen auch durch das Eigenleben der Cut outs, die sich auf Grund ihrer Materialität und äußerer Gegebenheiten ständig in der Form verändern können und sich widerspenstig gegenüber der strengen Architek-tur verhalten. – Eine konsequente Weiterführung von Birgit Knoechls Raumarbeiten ist ihre ge-rade publizierte Monografie „Aspects of Growth“, die, ebenso ein Machwerk aus Papier, über die Abbildungen hinaus den Papierschnitt miteinbezieht.
Text by Petra Noll
Vernissagenrede, 13.11.2015
Kunsthalle im Kunsthaus Nexus