Birgit Knoechl — Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen
Genauso wie die Linie zwei Flächen voneinander trennt, verbindet sie diese – die Linie ist konstitutiv für den Raum, den sie durchzieht; sei dies auf einem flachen Blatt Papier, oder sei dies als Pfad durch die Natur. Entlang von kunstimmanenten Fragestellungen über die zeichnerische Linie und ihr Verhältnis zum Raum setzt sich Birgit Knoechl in ihrer künstlerischen Praxis mit gesellschaftlich wirksamen Themen auseinander: Hybridisierung und Migration, Mimesis und Aneignung, Wachstum, Beschleunigung und Kontrolle. Birgit Knoechls Linien sind dabei keineswegs geradlinig. Mit Wucherungen, die den Ausstellungsraum geradezu bedrohen, indem sie Artefakte mit Formen aus der Natur zusammenbringen; mit sich in vielen Schichten überlagernden Schnitten, die mit dem Cutter aus ihrer Zweidimensionalität befreit wurden und deren Schatten immer weitere Linien hervorbringen; mit gedruckten Flächen, die innerhalb eines Bildträgers in zeichnerische Linien mutieren; mit kristallinen Körpern, deren Bestandteile mit glänzendem Latex überzogen sind und die wie die Umrisse eines Bildes im Raum sitzen; mit schwarz getuschtem Papier, dessen Beschaffenheit je nach klimatischen Bedingungen auf den Raum reagiert, lebendig – mit all diesen Methoden widersetzt sich Birgit Knoechl der Geradlinigkeit. Mehr noch – ihre Linien sind rhizomatisch, ohne Anfang und ohne Ende, entspringen sie doch aus einer Mitte heraus.
Im Kunstraum Lakeside sind Arbeiten aus Knoechls jüngsten Werkserie Bildungstrieb der Linie (2021/2022) zu sehen. Mit diesen durchgehend schwarzweißen Grafiken geht die Künstlerin dem Potenzial von Linien nach, räumlich zu werden und gleichsam einen Körper auszubilden. Die 51 Blätter umfassende Serie wirkt auf den ersten Blick heterogen: Denn die Künstlerin nutzt unterschiedliche Papierarten, Tusche und Linolfarben, sie arbeitet mit kleinen wie mit großen Formaten und sie wendet verschiedene Mischtechniken an. Bei genauerer Betrachtung werden Gemeinsamkeiten zwischen den Grafiken offenkundig: Nie hat es die Betrachter*in nur mit einer Linie zu tun, sondern stets mit dem Ergebnis von komplexen Übertragungs- und Überarbeitungsprozessen. Knoechl setzt also nicht einfach gestische Striche auf einen Bildträger, sondern entfernt Druckfarbe von einer Trägerplatte, fertigt davon – solange die Farbe noch feucht ist – einen Abzug an und bearbeitet diesen in weiterer Folge noch im Detail – etwa indem sie alle Flächen, die nicht Linie sein sollen, schwarz übermalt. Oder sie überlagert eine Monotypie mit Marmorierungen, also den zufälligen Ergebnissen von Tusche auf Wasser.
„Ich lasse zu, reagiere und kontrolliere“, so Birgit Knoechl zu ihrer künstlerischen Praxis. Die materiellen Eigenschaften von Farbe und Papier, sowie von den Farbträgern ihrer Monotypien, haben einen bestimmenden Anteil an den grafischen Endergebnissen. In ihrer forschenden Grundhaltung folgt sie Friedlieb Ferdinand Runge, der Mitte des 19. Jahrhunderts die Trenneigenschaften von Papier nutzte, um mittels chemischer Lösungen Bilder von bestechender Schönheit zu schaffen. Der Chemiker und Gelehrte veröffentlichte 1855 das Buch Der Bildungstrieb der Stoffe veranschaulicht in selbstständig gewachsenen Bildern, in dem Papierchromatographien als Unikate eingeklebt sind. Runge beschreibt darin, wie die Chemie ihre eigenen Bilder macht und wie dieser „Bildungstrieb […] besser, als irgend ein Maler malen kann“, wobei die Entstehung des Bildes mit der Entstehung der Farbe zusammenfallen würde bzw. „indem sich die Farbe, d.h. die gefärbte Verbindung aus den chemisch entgegengesetzten Stoffe bildet, gestaltet sich das Bild“.[1]
Birgit Knoechl setzt auf die Eigenschaften der von ihr verwendeten Materialien, lässt zu, dass sie eigenständig Formen hervorbringen. Zusätzlich reagiert sie auf ebendiese Hervorbringungen. Ein Dialog zwischen dem Material und ihr entfaltet sich, wobei dem kalkulierten Zufall eine besondere Rolle zukommt. Denn durch Zufall entstandene bildliche Lösungen wiederholt die Künstlerin in seriellen Erprobungen, indem sie einzelne Parameter – etwa Materialien, Handgriffe oder deren Reihenfolge – abändert. Ihr eigener Körper versteht sie dabei als einen „Speicherautomat“, der Gesten des Zeichnens durch jahrelange Praxis aufnimmt, verarbeitet und wiedergibt; der also auch ohne ihre bewusste Steuerung Anteil an der Bildschöpfung hat.
In der Ausstellung Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen sind neben einer Auswahl an Grafiken auch Übertragungen von Knoechls zeichnerischen Linien in das Medium Film zu sehen. Hier spielen ebenfalls zeitliche wie räumliche Überlagerungen und die Bewegungen von Linien und Körper eine zentrale Rolle. Displays aus Karton und mit Papier überzogen, schaffen im Ausstellungsraum für die Grafiken und Filme ein skulpturales Setting, welches das Gezeigte gleichsam in Schwebe hält. Weder einzeln gerahmt und damit als für alle Zeiten ruhig gestellte Kunstwerke an die Wand gehängt, noch horizontal als immer wieder neu zu aktualisierenden Archivalien präsentiert, können die Blätter wie auf Lesepulten betrachtet werden. Diese Displays regen eine Auseinandersetzung mit den Grafiken an, die dem Lesen von Texten gleicht; einem Lesen allerdings, das nicht als das Dechiffrieren von transparenten Zeichen verstanden wird, sondern als eine Art des Verstehens, das die Materialität von Zeichen in den Vordergrund rückt. Mit dieser Präsentationsform lädt Knoechl ein, sich befremden zu lassen, mit den Augen den Markierungen am Papier zu folgen, sich also auf eine Reise, eine Bildreise, zu begeben, und dabei den Prozess der Herstellung, also die vielfältigen Formen der Übertragung, nachzuvollziehen.
„Egal ob als verwobener Faden oder als geschriebene Spur, die Linie wird dabei immer als in Bewegung und im Wachstum wahrgenommen“,[2] so der Anthropologe Tim Ingold. Birgit Knoechls Schau Bald kommt der Frühling, dann werden die Steine blühen ist eine Erkundung dessen, was Linien alles sein können. Ihre mittelbare Arbeitsweise dient dem buchstäblichen Herantasten an das, was Linien auszeichnet und ist eine Hingabe an das Material. Das Interesse der Künstlerin gilt dabei nicht abgeschlossenen Entitäten, sondern losen Verbindungen und dichten Geflechten, die sich je nach Betrachtung von ihrer Umgebung abheben oder mit ihr verknüpft sind. Es ist daher nur folgerichtig, dass sie sich selbst nicht als alleinige Schöpferin ihrer Bilder begreift, sondern, auf die relative Eigenständigkeit der von ihr verwendeten Materialien und der von ihr angestoßenen Prozesse hinweist. So wird offensichtlich, dass sie als Künstlerin – so wie alle Menschen – auf vielfältige Weisen mit der Welt der Stoffe verbunden ist, mit einer Welt, die sich als eine Bündelung von tatsächlichen wie imaginären Linien verstehen lässt, eine Welt, die mit verbindenden Fäden und Spuren durchzogen ist.
[1] Friedlieb Ferdinand Runge, Der Bildungstrieb der Stoffe veranschaulicht in selbstständig gewachsenen Bildern, Oranienburg 1855, S. 23.
[2] Tim Ingold, Eine kurze Geschichte der Linien, Konstanz 2021, S. 14.
Text by Gudrun Ratzinger
erschienen zur gleichnamigen Ausstellung im Kunstraum Lakeside
Ausstellung, 16. März – 22. April 2022