RISS_WACHSTUM_0IV

RÉCOLTE_0I – INCIDIT KNOECHL

 

Die Technik des Scherenschnitts findet sich in den verschiedensten Kulturen und kann auf eine mehr als tausendjährige Entwicklungsgeschichte zurückblicken, deren Wurzeln in China liegen. In der europäischen Kultur ist der Scherenschnitt seit ca. 1600 n. Chr. nachweisbar und erfährt seine Blüte in den Schattenrissen und Silhouetten des 18. und 19. Jahrhunderts. Danach hat er, neben seiner untergeordneten Rolle als Experimentier- und Exerzierfeld künstlerischer Ideen, kaum Bedeutung und wird allenfalls im Bereich des Kunsthandwerks tradiert. Henri Matisse (1869-1954) etablierte den Papierschnitt, den er als Mittel der Abstraktion begreift, in der Moderne als eigenständige Kunstform, die jedoch vorerst keinen kontinuierlich-hohen Stellenwert erringt. Erst in den letzten Jahren hat diese Technik wieder an Relevanz gewonnen und rückt zusehends in den Fokus der Aufmerksamkeit des Kunstbetriebs, sowohl von Produzenten als auch von Rezipienten. Von besonderem Interesse sind die immensen gestalterischen, technologischen und formalen Möglichkeiten des Scherenschnittes, derer sich die Künstler und Künstlerinnen heute in vielfältiger Weise ohne Berührungsängste bedienen und die sie neu interpretieren.

Das historische Mittel des Scherenschnitts hat sich von seiner herkömmlichen Erscheinungsart als kleines, zweidimensionales, aus Papier geschnittenes Schattenbild weitestgehend gelöst. Es hat den dreidimensionalen Raum erobert und wird häufig monumental umgesetzt, realisiert in einer großen Bandbreite an unterschiedlichsten modernen Materialien, Techniken und Formen.

Der Scherenschnitt ist heute, im zeitgenössischen Kontext, zu einem faszinierenden, eigenständigen Medium avanciert, das die ihm ursprünglich zugeschriebenen Aufgaben der mimetischen bzw. idyllischen Wiedergabe der Gegenstandswelt oder des bloßen ornamentalen Dekorums bei weitem überschreitet und sich nun, jenseits aller romantischen und traditionsbehafteten Vorstellungen, mit neuen Inhalten aufgeladen, als durchaus zeitgemäßes und tragfähiges Mittel der kritischen Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen von Kunst und Gesellschaft erweist.

 

Birgit Knoechl arbeitet, wenn sie sich des Mediums des Scherenschnittes bedient, zumeist in herkömmlicher Form mit Papier, so auch in der Arbeit RISS_WACHSTUM_0IV, die aus ca. 70 papierenen Modulen besteht.

Den Ausgangspunkt des Werks liefern biologische Strukturen, etwa von Pflanzen und Kristallen, mit denen sich die Künstlerin befasst. Daraus werden Formen abgeleitet und aus dem Papier geschnitten. Das Papier selbst wird entweder weiß, im Ton des Materials belassen oder häufig auch mit satter, schwarzer Tusche gefärbelt, wodurch die Formen eine unheimlich-changierende Oberflächenstruktur erlangen. Diese Papierteile installiert die Künstlerin in skulpturaler Weise zu großen, dicht verwobenen Installationen, die quasi in den Raum wachsen. Sie erscheinen als Analoga zu organischen und anorganischen Wachstumsprozessen. Sie erlangen Lebendigkeit, breiten sich üppig wuchernd im Raum aus, nehmen beeindruckende Ausmaße an und scheinen den Raum zu erobern.

 

Bildnerisch widmet sich die Auseinandersetzung Birgit Knoechls der Untersuchung eines erweiterten Zeichnungsbegriffes, insbesondere in Hinblick auf die räumlichen Möglichkeiten des Mediums.

Die zeichnerische Linie, als Ausgangspunkt der Arbeit, wird während des Herstellungsprozesses des Werks aus der Fläche, vom Papier, in den Raum transferiert. Sie wird in einer konkreten Positiv- oder Negativform materiell umgesetzt und dadurch haptisch erfahrbar, skulptural und raumgreifend wirksam. Das ursprünglich flache Mittel des Scherenschnitts erscheint als dreidimensionales Werk in ungewohnt großer Dimension.

Grundgelegt ist ein modulares System. Aus Einzelteilen, aus simplen Basisformen, wird eine dichte Struktur gebaut, die sich in alle Richtungen rhizomartig weiter entwickelt. Sie ist in sich vielfach verbunden und verkettet, homogen strukturiert und ohne definitives Zentrum. Je nach Perspektive erscheint sie unterschiedlich organisiert. Eingeschränkt werden die sich ausbreitenden „Gewächse“ offensichtlich nur durch die limitierenden Vorgaben der Architektur. Diese bildet den Rahmen, sie bestimmen Form und Größenverhältnisse.

 

Im Außenraum ist das anders – hier tritt die Arbeit nicht in Rivalität mit der Umgebung, breitet sich nicht aus, erobert nicht Terrain, ordnet sich dem Umfeld nicht unter. Der Raum ist offen und unbestimmt und das Werk ist als eine Skulptur zu begreifen, die ein abgeschlossenes Volumen beschreibt. Die Materialität der Arbeit trägt das ihre dazu bei: schwarzer Gummi, reiß- und witterungsfest. Er vermittelt Körper, Gewicht und Beständigkeit. Die Skulptur ist auf einem Grundgerüst aus poliertem Stahl aufgebaut, das die abstrahierte Form einer Heu-Harfe zitiert, eines hölzernen Gerüstes, das der Trocknung der Mahd dient. Die Künstlerin bezeichnet ihr Werk mit dem Titel „Récolte“ („Ernte“), und präsentiert ihre Gummi-Schnitte, sozusagen als Ernte ihrer künstlerischen Tätigkeit.

Birgit Knoechl verwendet 9 Gummi-Module von einfacher, klarer, abstrakter Gestalt, die wiederum von botanischen Strukturen abgeleitet wurde. Sie werden aus 120 cm breiten Gummi-Bahnen geschnitten, am Stahlgerüst aufgehängt und miteinander verbunden. Durch die Windungen des Gummis, die sich im Hängen bilden und durch die Ausschnitte aus dem Material ergeben sich unzählige Perspektiven, die den Blick durch leiten. Ein differenziertes Licht-Schatten-Spiel, das immer schon ein Faszinosum des Scherenschnittes darstellte, entwickelt sich. Hier dient es vor allem der Steigerung raumplastischer Effekte und der ästhetischen Wirksamkeit.

Die Ambivalenz von Realität und Illusion, von Negativ und Positiv, das Verhältnis zwischen Sein und Schein, die Wirkung von Materialität und Immaterialität, das räumliche Spiel von Davor und Dahinter machen das Werk zu einem komplexen Gebilde. Sie verleihen dem Scherenschnitt große Erlebnis- und Ausdruckskraft und machen ihn zu einem idealen Mittel zeitgenössischen Kunstschaffens. Und sie heben ihn weit über die Möglichkeiten seines ursprünglichen Ausgangsmediums, der Zeichnung, hinaus.

 

Die Papierschnitte in den Plexiglaskästen verdeutlichen das Verhältnis zur Zeichnung besonders gut. In ihnen erscheinen die Formen gezähmt – in ihrer Kontur erfassbar, kultiviert und als Einzelteile lesbar. Wie zarte Pflänzchen im Herbarium. Raum wird hier durch Schichtungen unterschiedlicher flacher Ebenen erzeugt und nicht durch Vernetzung und Verwindung. Licht- und Schattenspiele gibt es nicht. Die Arbeiten erscheinen wie eine Fußnote zum restlichen Werk, gleichsam visuelle Erläuterungen des Denkens und Handelns der Künstlerin.

 

Text by Christine Wetzlinger-Grundnig

RISS_WACHSTUM_0IV
RÉCOLTE_0I – INCIDIT KNOECHL
erschienen zur Ausstellung im Schau-Kraft-Forstsee
2016