Linie, Eckstein, Molekül
(über Vorsicht und Mimetik)
Für Birgit Knoechl
Und wenn es nichts von dir will? Und erst recht nichts von dir braucht? Sondern irgendwo da draußen wartet? Auf den Tag. Auf etwas Regen. Oder Sonne. Oder auf Reize und Erschütterungen, die deine Sinne ohnehin nicht wahrnehmen würden. Es: das Ding, das Tier, das Gewächs, das Wetter, das organische und anorganische Leben. Deine Gefühle, Gedanken und Worte werden es nicht berühren. Den Wassermolekülen ist es egal, ob dich der Regen bis auf die Haut durchnässt. Und der verhangene Himmel wird sich nicht öffnen, nur weil du dich nach Licht sehnst. Zumindest gibt es keine eindeutigen Anzeichen dafür, dass es anders wäre. So stellen wir uns die Natur als eine Welt voller Dinge, Kräfte und Phänomene vor, die, was sie sind, ganz für sich sind, und auf eine Art ganz bei sich bleiben. Im Gegensatz zu uns Menschen, die wir der Gegenwart stets voraus eilen und glauben kraft unseres Bewusstseins die Dinge durchdringen, verstehen und beherrschen zu können. Eine Anmaßung. Was würde das Bewusstsein in seine Grenzen verweisen, wenn nicht die Tatsache, dass kein Wissen der Welt dem Wasser je seine Nässe nehmen wird? Vielleicht ist der entscheidende Schritt, der in Kunst und im Denken zu vollziehen ist also diese Grenzen anzuerkennen und klarzustellen: Mein Bewusstsein endet hier. Auf dieser Linie. Und diese Linie überschreite ich nicht. Ich ziehe sie. Und berühre sie auf meiner Seite. Was diese Linie auf der anderen Seite berührt, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Nur so viel: als Grenze bildet die Linie zumindest eine Berührungsfläche, eine Achse, auf der die Dimensionen aufeinander treffen, ein Knick in der Welt, um den sich herum Dimensionen der Wirklichkeit auf – und auseinanderfalten könnten.
Und wenn du es doch kennst? Viel besser kennst, als du denkst? Es: das Ding, das Tier, das Gewächs, das Wetter, das organische und anorganische Leben. Denn wieso sollte die Natur da draußen still für sich ihre Sache machen? Immerhin bist du Teil von ihr. Und sie durchwirkt dich ständig. Schon wenn du kalte Füße bekommst und dir die Bodenkälte langsam im Körper emporkriecht. Roger Caillois schreibt, am Tag seien Körper zwar vergleichsweise lichtundurchlässig, in der Nacht aber gehe die Dunkelheit dir unter die Haut und durchflute den Körper ganz.[1] So wie Radiowellen dich durchdringen. Wenn du der Welt nicht als Fremdkörper entgegentrittst, sondern in ihr bist, warum tun wir dann so, als sei sie ein Außen, als läge ein Schleier über ihr, hinter dem die Dinge im Verborgenen lebten. Als ob wir beim Gang durch die Natur ständig aufsagten: ”Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vorder mir gilt es nicht! Und an allen Seiten nicht!“ Was, wenn der Eckstein nicht versteckt, sondern in und außer uns immer gegenwärtig wäre? Dann müsste man spekulative Physik verstehen lernen.[2] Oder mehr Kunst machen. Denn was wäre Kunst, wenn nicht — seit Urzeiten, wo sie noch ausdrücklich als Totem- und Fetischmacherei verstanden wurde — der Versuch mit den Kräften der materiellen Welt in Verbindung zu treten. In Verbindung treten heißt nicht Übersetzen zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Sprache (durch Lichtorgel spielen vor Außerirdischen, Entschlüsselung von Eiskristallformen oder Sprachunterricht für Kakteen[3]). Es läuft hier nicht ab wie bei Verhandlungen zwischen zwei Parteien. Denn die Verbindung besteht bereits, insofern bestimmte Prozesse synchron in unterschiedlichen Organismen und Dingen stattfinden. Pflanzen zum Beispiel scheinen Geschehnisse in ihrer Umgebung mitzuvollziehen. Der Schmerz eines Organismus in der Nähe einer Pflanze finden in ihr eine Entsprechung in messbaren Erregungszuständen. Auf vergleichbare Weise lassen sich in Senfkeimlingen elektromagnetische Frequenzmuster messen, die mit der von Planetenbewegungen exakt übereinstimmen.[4] Wenn sich Kräfte, Impulse, Schwingungen und Affekte also parallel im Medium verschiedener Körper auswirken sollten, dann gäbe es eine Art multimediale Mimetik in der Natur. Was mir durch Mark und Bein geht, mag im selben Moment die Blattadern einer Pflanze durchlaufen. Und was das Wetter macht und Wolken in den Himmel setzt, magnetisiert die Elektronen in meiner Hirnrinde gleich mit. Die Musik der Sphären erklingt multitimbral mit einer überlagernden Stimme.
Für einen von Vorsicht getragenen, Grenzlinien ziehenden Denkansatz werden sich genauso gute Gründe finden lassen, wie für eine mimetische Prozesse nachzeichnende, spekulativ empathische Form der Annährung an die Natur der Welt. Und es ist keine Frage der Wahl oder Glaubensentscheidung. Denn beide Formen des Wissens gibt es heute, so oder so. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, Wege zu finden, mit der Tatsache umzugehen, dass die vorsichtige und die mimetische Sichtweise gleich wahr sein könnten.
Das Besondere an der Arbeit von Birgit Knoechl liegt darin, dass sie sich künstlerisch auf genau diese Herausforderung einlässt! Sie bewegt sich, ebenso vorsichtig Linien ziehend wie multimedial mimetische Formen gestaltend, in einen Wirkbereich hinein, wo Artefakt und Natur in einem Moment klar auseinandertreten, im nächsten Moment dagegen von mimetischen Gestaltähnlichkeiten, Form- und Frequenzresonanzen durchwirkt zu sein scheinen. Ihr Umgang mit dem Anspruch von Kunst auf die Vergegenwärtigung der Welt ist auf der einen Seite spürbar, ohne jede Anmaßung. Ihre Arbeit sagt nicht: Ich bin Natur. Sie sagt stattdessen offen: Ich bin Tinte auf Papier, Pappe, Latexüberzug, Scherenschnitt und Muster, Arbeit im Medium, keine Repräsentation, kein Rendering des Realen. Entlang der klar gezogenen Trennlinie jedoch lässt Knoechl zugleich Parallelströme fließen. Mit Latex überzogen wird ein aus Pappe oder Papier gefalteter geometrischer Körper auch zu einem Gegenstand mathematischer Fetischmagie. So vermittelt er eine Ahnung dessen, was in diesem Moment simultan und synchron zu Knoechls Zeichnungen und Objekten in anderen Medien der Natur stattfinden mag: in der Geometrie der Dinge, im fraktalen Muster eines Pflanzenwuchses, in der wechselseitigen Überlappung von Blättern oder im Rhythmus der Membranenbewegung eines Organismus im Meer. Ansprüche auf höheres Wissen leiten sich daraus keine ab. Im Gegenteil. Was Wissen in Bezug auf die Dinge der Natur bedeutet, welche Form sie überhaupt nur annehmen können, ist eine Frage, die
Knoechls Arbeit unabweisbar in den Raum stellt, wenn ihr skeptisch agnostischer Zug in den Vordergrund tritt, das Artefakt seine Bedeutung in sich verschließt und dich spüren lässt, dass du nicht wissen wirst, was dieses Ding weiß. Ein Gefühl, das im nächsten Augenblick schon umschlagen kann in eine riskante Ahnung davon, dass dein Körper bestimmte Formen, Resonanzen und Rhythmen besser kennt, als dein Bewusstsein es zugeben würde. Riskant? Weil es mit landläufigen Mitteln vermutlich nicht zu beweisen wäre. Und weil Knoechl sich der falschen Wahl zwischen Skepsis und Mimetik widersetzt und stattdessen den Raum zwischen ihnen betritt. Es ist ihr Risiko, eine Kunst zu machen, die die Grenze zur Natur klar herausstellt und diese zugleich im multitimbralen Zusammenklang von Linien und Materialien mit Körpern, Gestalten, Volumen und Kräften aufhebt. Ohne Beweise und Rechtfertigungen. Aber mit dem Mut, Gespür und Humor einer Einlassung auf das ontologisch Ungewisse, das heißt, wirklich mit den Mitteln von Kunst.
Text by Jan Verwoert
publishes in ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015
[1] Roger Caillois: Mimétisme et la psychasthénie légendaire. In Minotaure 7, 1935.
[2] Zum Beispiel in ihrer philosophischen Deutung durch Karen Barad in: Meeting the Universe Halfway, Duke University Press, Durham 2007. Ich danke Federica Bueti fürs Vorlesen.
[3] Viele parawissenschaftliche Untersuchungen fallen genau an dem Punkt hinter ihre Intuitionen zurück, wo sie sich der Welt der Phänomene doch wieder nur in konventioneller Weise als einem Gegenüber nähern, dem wir etwas vermitteln oder entlocken könnten, wenn wir nur den Code für die Informationsübermittlung besäßen. Ikonische Beispiele wären die Begrüßung von Außerirdischen mit einer kybernetischen Lichtorgel in Steven Spielbergs Close Encounters of the Third Kind (1977), die Ausdeutung von Wasserkristallformen als genormte Symbolsprache durch Masaru Emoto, oder die im FilmThe Secret Life of Plants (1979) dokumentierten Versuche des Wissenschaftlers Ken Hashimoto, Kakteen Japanisch beizubringen.
[4] Viele überzeugende Beispiele für derartige Phänomene finden sich in dem Buch The Secret Life of Plants von Peter Tompkins und Christopher Bird (Harper & Row, New York 1973) und der Filmadaption durch Walon Green (1979), so auch die Experimente von L. George Lawrence mit Senfkeimlingen. Vielen Dank an Birgit Knoechl für den Hinweis auf Buch und Film!