Entspannte Anspannung

Gewebe der Welt

 

Out of control – the autonomy of growth: Im Werk von Birgit Knoechl trifft performative Intensität auf subtile dramaturgische Akzentuierung. In Raumabschnitten hängen die gleich einer zellularen Vervielfältigung wuchernden Installationen, die in ihrer sich durch Licht- und Schattenwirkung erweiternden Präsenz den Raum transformieren.

Durch Neonröhren wird die Installation „out of control – the autonomy of growth_0II” (2007) in Birgit Knoechls Studiopräsentation am Bauernmarkt von unten beleuchtet. Es ist ein künstlerischer Akt, der sich jeder räumlichen Tarnung entzieht, sich einer Art suspendierenden Dialektik zuwendet. Die großformatigen Installationen von Birgit Knoechl greifen und produzieren Raum, treten der vorgefundenen Architektur in Studio- und Ausstellungsräumen offensiv, raumkonstituierend entgegen. Die Arrangements entfalten sich aus Cut_outs von bis zu fünfzehn Meter Länge. In den Produktionsablauf fließen durch die Performativität der modulartigen Herstellung, welche mit der zu produzierenden räumlichen Situation als Environment proportional interagiert, Methoden des Spacings ein. Dabei handelt es sich um eine Methode, die auf die Prozesshaftigkeit in der Herstellung von Räumen verweist. Spacing benennt und markiert den komplexen Formierungsprozess von Räumen.

Gleichzeitig wird ein interventionistisches Cutten räumlicher Strukturen bewirkt. Die Installation „out of control_revisited – the autonomy of growth_0IV” (2006-08/2012) in der Albertina entfaltet ihre Wirkung aus der Raumecke, ist von oben mit Lichtspots beleuchtet. Als Betrachter_Innen gelangen wir im Ausforschen der Gesamtdisposition, im Verlangen diese in den Blick zu bekommen, durch das Zurücktreten in ein dynamisches Gewebe, ein visuelles, räumliches Spiel und in eine unterschwellige räumliche Verschiebung.

In seinem Buch „Poetik des Raumes“[1] befasste sich der französische Philosoph Gaston Bachelard mit der „Topophilie“ mit der Analyse des glücklichen Raumes. Die Erfahrbarkeit des Raumes, erlebbare Ausgedehntheiten, menschliche Raumvorstellungen, imaginiertes Sein, Räume, die Charakteristiken von Zufluchtsorten annehmen, bilden dabei relevante Bezugspunkte. In der Psychoanalyse werden solche örtlichen Verräumungen (meist in Zusammenhang mit Erinnerungsbildern) „Topos-Analyse“ genannt. Dies bedeutet auch, den Raum als erfahrbares Etwas samt seiner Indifferenzen zu untersuchen und zu vergegenwärtigen.

 

Birgit Knoechl operiert mit performativ erweiternden ästhetischen Parametern, um uns von einer wilden Seite hin zu einer offenen Form des Kunstfühlens zu animieren. Den Ausgangspunkt dazu bilden kunsthistorische und theoretische Recherchen wie zum Beispiel zu Fragen der Performativität.

Der Ausdruck performativ wurde durch den Philosophen John Langshaw Austin in die Sprachtheorie Mitte der 1950er Jahre eingeführt. Austin erfand den Begriff, um damit auf den Handlungscharakter des Sprechens zu verweisen und um aufzuzeigen, wie sich im Vollzug des Sprechens auch eine außersprachliche Wirkung zeigt. 1955 hielt er darüber einen Vortrag an der Harvard University, eine Publikation folgte.[2]

Übertragen auf den künstlerischen Prozess äußert sich im Performativen die realitätserzeugende Dimension des Kunstwerks.

Ein Hang zum Anti-Establishment dringt durch. Kann Kunst kritisch sein, nachdem sie zur besten Freundin des Kapitalismus geworden ist? In den Disziplinargesellschaften von gestern waren Machtstrukturen „körperlich“. Sie waren sicht- und fühlbare Autorität, die sich normierend auf Verhaltensmuster auswirkte. Anders verhält es sich mit der postdisziplinären Gesellschaft, hier wirkt die Autorität nicht mehr von Außen, sondern subtil „von innen“ – die Macht sorgt dafür, dass die von ihr Betroffenen genau das wollen, was sie sollen. In der Publikation „Kreation und Depression“[3] liefern Christoph Menke und Juliane Rebentisch Schlüsseltexte zur postdisziplinären Gesellschaft. Eine ihrer Kernfragen lautet: Wenn die neoliberale Konkurrenzgesellschaft ihr normierendes Rollenmodell am Bild der kreativen Künstlerin („Selbstverwirklichung“) gewinnt – was wird dann aus der Kunst als Feld des zweckfrei Ästhetischen im kantischen Sinn, verkümmert Kunst zum Cheftrainer der Einbildungskraft, wie es Michael Makropoulos nannte? Diesem Vakuum tritt Birgit Knoechl in ihrer Kunst durch eine Unangepasstheit und einen Widerwillen entgegen, appelliert an die Existenz des postautonomen Subjekts und dessen Potenzial aus dem Chaos zunehmend einengender neoliberaler Lebensstile herauszutreten.

 

Das Wiederholen der Phrase „out of control“ in den Titeln ihrer Installationen ist also kein Zufall. Ein Kontrollverlust entsteht, wenn die Komplexität von Interaktionen unsere Aufnahme- und Vorstellungsfähigkeit übersteigt.

Out of control – Außer Kontrolle als politischer Terminus beschreibt ein Demonstrationskonzept, bei dem Teilnehmer_Innen von Demonstrationen versuchen, sich mehrfach zu zerstreuen und sich an anderer Stelle erneut zu sammeln, um die Grenzen zwischen Demonstrationszug und Umgebung aufzulösen. Das Konzept „out of control“ basiert auf einer dezentralen Organisationsstruktur und unkontrollierten Bewegungen.

Etymologisch stammt der Begriff „Kontrolle“ aus dem französischen „contrôle“, in älterer Schreibweise „contrerolle“, „contre“ – „gegen“ und „rôle“– Rolle, Register, Liste. Die „Contre Role“ bezeichnet ursprünglich ein „Gegenregister zur Nachprüfung von Angaben eines Originalregisters“. Kontrolle abgeleitet vom Register ist externalisiertes Gedächtnis und der Versuch mithilfe eines Archivs die Zukunft durch die Erwartungswerte der Vergangenheit zu ersetzen. Im Sinne Jacques Deleuzes wäre eine Kontrollgesellschaft eine Gesellschaft der Vorhersagbarkeit – eine Gesellschaft ohne Zukunft – das heißt ohne Ereignis. Durch gegenwärtige Datenflüsse finden enorme Verschiebungen statt. Anstelle einer Archivologie tritt heute eine Queryology, eine Wissenschaft der Abfragesysteme.

Wer persönliche Daten in soziale Netzwerke wie Facebook eingibt, weiß weder zum Zeitpunkt des Eingebens noch später genau, von wem die Daten genutzt werden. Daten aus Social Networks werden in Massen weitergegeben, verschlüsselte Verbindungen geknackt. 2013 ging als das Jahr der Datenschmelze in die Geschichte ein.[4] Ein Phänomen, das Forscher als das Privacy-Paradox bezeichnen, manifestiert sich hier. Obwohl der Schutz von Privatsphäre als sehr wichtig empfunden wird, wird wenig dafür getan. Gegenüber einer exakten Planung und dem Drang, durch Ordnungsmethoden Kontrolle über Systeme und Materialien zu gewinnen, liegen die Chancen sich in einen Dialog mit Phänomenen des Kontrollverlusts einzulassen, darin, durch diesen Moment aus der vorgefundenen oder der durch gewisse Beziehungen und Abläufe verhandelten Realität herauszutreten bzw. zeitliche Transfers vorzunehmen, um konstruktive, unerwartete Eingriffe zu setzen.

 

Birgit Knoechl unterzieht ihre Motive einer räumlichen Erweiterung, variiert ihr als Module angelegtes Formenvokabular.

Zuerst entsteht eine Tuschezeichnung in unterschiedlichen Lagen und Nuancierungen. Das in mehreren Schichten bearbeitete Papier gewinnt mittels der durch tiefschwarze Tusche erzeugten opaken Materialität an Haptik und betont – kaum visuell in seiner Gesamtheit fassbar – die Lebendigkeit des Papiers als Material.

Im Laufe der Jahre hat Birgit Knoechl zunächst ausgehend vom japanischen Ornament ein enormes Konvolut an Papierarbeiten geschaffen. Beginnend mit Cut_outs in Kombination mit Zeichnungen, entwickelt sich ein Arbeiten mit organischen Linienstrukturen und geometrischen Formen. Von organischen, rhizomatischen, biometrischen zu fraktalen, kristallinen, geometrischen Formen ausgehend und der Hinterfragung, wie diese zueinander in Beziehung gebracht werden können.

Variationen in der Wiederholung der formalen Grammatik, Verschiebung und ein auf Veränderung zielendes fluides Agieren treffen aufeinander. Birgit Knoechl hat sich durch laborhafte Durchgänge ein Maß an Freiheit erarbeitet. Mit ihren Cut_outs öffnet sie den zweidimensionalen Raum des Mediums der Zeichnung, wendet Methoden des Samples und Re-Samples an, nimmt eine Neu- und Re-definierung der Linie in der Zeichnung durch den Cut vor, gestaltet Raumzeichnungen hautnah, definiert Felder der Passagen des Dazwischens. Birgit Knoechl nützt jenes “Vergegenwärtigungspotenzial der Linie”, von dem der Kunsthistoriker Max Imdahl schrieb.

Der zeichnerische Fluss tritt in eine performative Dualität. Der künstlerische, performative Prozess ist ein sehr intimer, in sich kreisender, tanzender Vorgang, der körperliche Bewegungsrhythmen, haptische Abläufe einbezieht. Diesem Prozess unterliegt eine gewisse Faszination für biomorphe, netzwerkartige Strukturen in Papier, dessen Schwärze trotz Fragilität des Materials gleichzeitig in den zahlreichen Überblendungen eine detonierende Wirkung hybrider Formen zeigt.

Birgit Knoechl kreiert eine Art Garten von Eden, tritt jeder Hysterie kosmischer Verwünschungen entgegen, nimmt durch die Schwingungen ihrer Installationen eine Entblößung anarchischer Ambiguität vor, die in ihren Anspielungen die Rezipient_Innen in den Bann ziehen. Gleichzeitig bietet Birgit Knoechl unterschiedliche Lesearten zu Form und Bedeutung des Mediums, lässt eine performative Ethik durchdringen. In ihrer physischen, vitalen Präsenz überwältigend, wirken die Installationen offen und durchlässig, gewähren Zugang zum Prozess eines andauernden Befragens dessen, wie anstelle euklidischer Raumkonstruktionen und deren unterschwelligem Verhältnis zur Macht andere Raumwahrnehmungsmodelle treten.

Losgelöst von einer linearen Zeitlichkeitsentwicklung gewinnen die Installationen von Birgit Knoechl eine zeitlose Konsistenz, werden von der Zeit entkoppelt. Raum wird als agiles Element in einem dialektischen Kontext veranschaulicht und erfahrbar gemacht als Spirale des Seins, die sich zum Mittelpunkt hin und vom Mittelpunkt weg bewegt. Das Sein lässt sich nicht fixieren. Im Gegenübertreten entstehen Gewebe der Welt, die eine Skepsis gegenüber jeder Autorität einer kontrollierten Aussage beansprucht, eine klare Ablösung von einem euklidischen Raumverständnis evoziert.

 

Text by Ursula Maria Probst

published iin ASPECTS OF GROWTH – BIRGIT KNOECHL
VERLAG FÜR MODERNE KUNST
2015

 

[1] Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987 [1957].

[2] John Langshaw Austin, How to Do Things with Words, Harvard University Press, Cambridge, MA 1962.

[3] Christoph Menke und Juliane Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression – Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Kulturverlag Kadmos, Berlin 2011.

[4] Vgl. Michael Seemann, „Die Privatsphären-Falle“, ZEIT ONLINE, 9.10.2013, abgerufen am 18.08.2015, http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2013-10/privatsphaere-ueberwachung-nsa-seemann.